08.06.2020

eine kleine Geschichte: Liu niao

Eine kleine Geschichte von Herrn Li und Herrn Chen, die einen Vogel haben.

Sie kommen schon früh, die beiden älteren Herren, ich nenne sie jetzt einfach mal Herr Li und Herr Chen. Sie treffen sich an dem Ahornbaum, Ecke Nanchang Lu und Xiangyang South Lu, genau am Zebrastreifen, den allerdings kein Auto-, Moped- oder Radfahrer beim Abbiegen interessiert. Gefährte mit Reifen haben Vorfahrt und auch unter ihnen gibt es eine klare Rangordnung: Autos vor Mopeds vor Fahrrädern. Fußgängern stehen ganz unten in der Verkehrsteilnehmerhierachie.

Als erstes hängt Herr Li seinen Vogelkäfig an den Baum. Sein Käfig ist größer als der von Herrn Chen, der gerade die beiden mitgebrachten Stühle und ein kleines Tischchen aufstellt. Dann erst hängt er seinen Vogelkäfig auf, allerdings an einen anderen dicken Ast des Baumes Sein Vogel hat freiere Sicht auf die Strasse und den Überweg. Vielleicht inspiriert ihn das zum lauteren Singen, denn Herr Chen's Vogel ist viel aktiver als der von Herrn Li.
Foto: Vogelkäfig
Ich kenne mich nicht mit Vögeln aus und kann Herrn Li und Herrn Chen - dank meiner fehlenden Chinesischkenntnisse - auch nicht fragen, was denn das für Vögel sind, die sie da haben. Ich könnte vielleicht eine App 'runterladen, die Vögel anhand des Gesangs erkennt. Ich bin mir sicher, dass es soetwas schon gibt, habe aber keine Lust danach zu suchen. Es ist eh schwierig in China Apps aus dem deutschen Appstore herunterzulagen. Das hat Apple inzwischen hinbekommen, dass man keinen weltweiten Store und Zugriff mehr hat. Egal. So, wie ich nicht weiss, ob die beiden älteren Herren Li und Chen heissen, schreibe ich jetzt einfach mal, dass es chinesische Spottdrosseln sind. (Sollte es einen Leser oder Leserin geben, die anhand der Bilder mich JTEBS machen kann, bitte hinterlasst doch einen Kommentar). 

Herr Li und Herr Chen hängen ihre Vögel immer zusammen auf. Sie sollen sich gegenseitig animieren. Spottdrosseln sind begabt darin, Töne aus der Umgebung nachzuahmen. Sie lernen also voneinander. Ob sie wohl bald den Strassenlärm imitieren können? Ist natürlich Quatsch und bald fahren ja eh nur noch Elektrogefährte herum, da hört man nichts. Wie es jetzt schon der Fall ist bei allen Mopeds - oder Scooter wie man hier sagt. Die chinesische Regierung hat in ihren Bemühungen um bessere Luft in den Megacities die herkömmlichen Zweitakt-Motorräder komplett verbannt. Alle fahren jetzt elektrisch, teilweise per Hand umgerüstet, was immer wieder zeigt, in welchem Abenteuerland wir aktuell leben.

Aber zurück zu Herrn Li und Herr Chen mit ihren Spottdrosseln: Sie hüpfen und flattern munter umher und zwitschern laut. Ich meine natürlich die Vögel und nicht die beiden Herren. Nach einer Weile werden sie stiller. Vielleicht ist es ihnen ja auch zu heiss? Oder sie mögen es nicht, von mir so intensiv beobachtet zu werden. Oder es ist wie bei der täglichen Morgengymnastik: in den ersten 5 Minuten ist man noch hochmotiviert, dann lässt die Lust nach: "ich hatte doch erst gestern Gymnastik gemacht!"
Foto: mit Blick auf die Strasse
Herr Li und Herr Chen sind Renter, aber haben, seit sie sich erinnern können, schon immer Vögel gehabt. Jetzt bringt es sie zu einem Spaziergang nach draussen und man trifft sich. "Früher gab es viel mehr Vogelbesitzer hier in der Gegend", erzählt Herr Li (habe ich mir jetzt ausgedacht). "Hier", er zeigt die Baumallee hinunter, "hing fast an jedem Baum mindestens ein Vogelkäfig. Das war bevor die grosse Shopping Mall aufgemacht hat." Er deutet hinter sich auf die moderne, Luxus Mall IAPM, die ein Grund ist, warum wir hierher gezogen sind: 3 Metrolinien und eine Shoppingmall direkt vor der Haustür, praktischer geht nicht, um sein Auto zumindest am Wochenende stehen zu lassen.

"Die Regierung hat dann überall Hecken und Blumenbeete gepflanzt. Jetzt kann man kaum mehr einen Stuhl auf den Bürgersteig stellen." Aber Herr Li beklagt sich nicht. Wie auch Herr Chen findet er den Fortschritt gut und es gäbe ja überall viele Bäume und Parks, die so schön gepflegt sind. "Das Leben ist viel besser als früher", sagt Herr Chen. Nur leider gäbe es kaum mehr Vogelfreunde. "Die nächste Generation will lieber Hunde", Herr Chen kichert. "So etwas haben wir früher gegessen", aber beeilt sich hinzuzufügen "heute aber nicht mehr." Herr Chen hat wohl davon gehört, dass Ausländer es abstoßend finden, dass in China Hunde gegessen werden. 

Die Haltung von Singvögeln hat eine lange Tradition in China und der Spaziergang mit dem Vogel sogar einen eigenständigen Begriff: Liu niao. Man nahm seine Vogel mit in den Park, um ihn gemeinsam mit anderen Vögeln singen oder sogar in Singwettbewerben gegeneinander antreten zu lassen. Aufgrund der Platzknappheit in den Wohnung gehörten Singvögel neben Fischen und Schildkröten zu den beliebtesten Haustieren. Nun sind sie ein Hobby der älteren Generation.

Gut gelaunt sitzen Herr Li und Herrn Chen auf ihren Plastikstühlen im Schatten des Baumes, rauchen gemeinsam ein paar Zigaretten, hören den Vögeln beim Singen zu. Ab und zu wird mit dem Strassenaufpasser, dem Straßenfeger oder einem Passanten palavert oder einfach die Morgenidylle am Strassenrand genossen. Zum Mittagessen, spätestens um 12, wird alles wieder abgebaut. Dann sind auch die beiden Spottdrosseln ganz verstummt und es ist voll auf der Xiangyang South Lu geworden. Nächsten Sonntag sind sie wieder da, Herr Li und Herr Chen mit ihren Spottdrosseln. Wochentags kommen sie nicht. Vielleicht weil es inzwischen verboten ist. Oder die beiden Rentner etwas Wichtigeres zu tun haben. Auch in China haben Rentner eigentlich keine Zeit.

Kleingedrucktes zu meinen kleinen Geschichten: Personen, Namen, Handlungen und Zitate sind frei erfunden und nur ein neues Format meiner Bildkommentierungen.

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