27.10.2020

eine kleine Geschichte: Schönschreiber

Eine kleine Geschichte von Herrn Wen, dem Wasser-Gedichtsschreiber 

Wenn es nicht regnet kommt Herr Wen am Wochenende früh morgens in den Park zum Schreiben, bewaffnet mit seinem Kalligraphie-Pinsel, einem Topf Wasser und seinem Gedichtsheft.
Heute ist er damit ein Exot und nur Herr Wu, ein älterer Shanghainese als Herr Wen, frönt ab und zu dem gleichen Hobby im selben Park.
Foto: Wasserschönschreiber
"Wasserkalligraphie war ein beliebtes Hobby in China", erzählt Herr Wen. In vielen Parks konnte man Künstler und Schreiber beobachten, wie sie ihre schnell vergängliche Kunst auf Steinplatten und Fußwege malten. Eine Möglichkeit, sich zumindest für kurze Zeit, Ausdruck zu verschaffen, denn natürlich ist Graffiti oder sonstige Straßenkunst in China verboten. Herr Wen grinst "bei Sprüchen und Schriftzeichen aus Wasser kann niemand etwas sagen, denn sie verschwinden gleich wieder und verursachen keinen Schaden".

Man nennt die Kunst dishu (地 书 Erde + Schrift). Für Herrn Wen ist sie nur ein Hobby und er geniesst es, das Schreiben mit dem Pinsel weiter zu perfektionieren. "Für mich", sagt er "ist es auch eine Art der Meditation. Ich schalte komplett ab und höre nicht mal die Musik".
Rechts und links neben uns scheppert Musik aus alten Lautsprechern, denn auch die Tanzgruppen sind schon früh morgens im Park. "Außerdem freue ich mich, wenn Leute stehen bleiben und sich an meinen Zeilen erfreuen" sagt er.

Herr Wen sucht sich Gedichte und Sprichwörter für seine Straßenkunst aus, die dem Vorübergehenden Glück und Wohlergehen wünschen. Heute morgen halten nur wenige inne, um Herrn Wen beim Schreiben zuzuschauen und seine ersten Striche werden bereits von tanzenden Füßen verwischt. Aber das stört Herrn Wen nicht, denn schließlich hat er heute morgen schon eine laowai mit seinem Hobby erfreuen können.

Kleingedrucktes zu meinen kleinen Geschichten: Personen, Namen, Handlungen und Zitate sind fast frei erfunden und nur ein neues Format meiner Bildkommentierungen, Beobachtungen, Gespräche und Recherchen.

Foto: Wasserkalligraphie-Kollege Wu


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